Sonntag, 9. März 2014

Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt...


Statio 22./23.2.2014
(Lev 19, 1-2.17-18; 1 Kor 3, 16-23; Mt 5,38-48)

In einem Sprichwort heißt es: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“ Kennen Sie das auch? Zumindest haben mir das einige Katechetinnen bestätigt. Es ging um die Beichtvorbereitung der Erstkommunionkinder und den Sinn eines Gewissensspiegels. Grundsätzlich sagt uns ja unser Gewissen, was richtig ist und was falsch. Erst einmal sind wir nur unserem Gewissen gegenüber verantwortlich. Aber wir sind auch verantwortlich für unser Gewissen. Das heißt, wir müssen es schulen und an Wertmaßstäben orientieren. Christen nehmen maß an Jesus Christus. Daher orientiert sich der Gewissensspiegel der Kinder an der Goldenen Regel und am Liebesgebot.

Mit der Goldenen Regel konnten die Katechetinnen noch viel anfangen. „Alles, was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen!“ (Mt 7,12). Die Mütter meinten: „Ja, das können schon Kinder gut verstehen und auch umsetzen. Zuerst überlegen, was ich mir wünsche. Wie soll der Andere sich mir gegenüber verhalten? Dann weiß ich, wie ich handeln muss. Es ist zwar anspruchsvoll, den ersten Schritt zu tun, aber es überfordert nicht.

Anders das Liebesgebot: „Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst.“ (z.B. Lev 19, 18 oder Mt 22, 39) „Das ist schon eine andere Hausnummer.“ meinte eine. „Den anderen lieben? Das ist manchmal einfach unmöglich. Mein Nachbar zum Beispiel. Der ist ein richtiger Stinkstiefel. Eigentlich haben wir eine gut funktionierende Nachbarschaft. Aber vor einem Jahr ist der neu zugezogen. Anfangs hab ich ja noch versucht, freundlich zu sein. Aber der bringt es nicht einmal fertig, zurück zu grüßen. Und dann letztens die Sache mit den Mülltonnen…“ --

Na ja, ähnliche Situationen fallen Ihnen bestimmt auch ein…

„Nach der Goldenen Regel zu handeln ist doch einfach“, meinte die Katechetin. „Ich erwarte mir einfach nichts mehr von dem. Ich will auch gar nicht mehr gegrüßt werden. Also kann ich ihn links liegen lassen.“ Na ja, hab ich gedacht, so kann man sich rausreden. Ob sie wirklich nichts mehr von ihm erwartet? Auf Dauer hält sie das bestimmt nicht aus.

Die Katechetin meinte weiter. „Also: Goldene Regel, o.k. – aber ihn lieben wie mich? Nee, das kann ich nicht. Dazu ist der mir viel zu unsympathisch.“

Ein Problem, sich selbst zu lieben, hatten die Frauen nicht. Ihre Mütter dagegen hatten noch gelernt: das ist egoistisch. Dabei ist es doch ganz wichtig. Nur wenn ich mich selbst annehmen kann, kann ich auch andere schätzen. Nur wenn es Eltern gut geht, können sie gut für ihre Kinder da sein. Nur wenn erwachsene Kinder nicht überfordert sind, können sie die alten Eltern pflegen. Selbstliebe und Nächstenliebe: Das sind zwei Seiten einer Medaille. Leider fällt das vielen Menschen schwer.

Und wenn es doch gelingt, sich selbst zu lieben: „Den blöden Nachbarn genauso lieben wie mich? Das ist schon eine Zumutung.“, meinte die Katechetin. „Und überhaupt, was ist denn mit „Liebe“ gemeint? Soll ich jedem um den Hals fallen? Soll immer Friede, Freude, Eierkuchen sein? Das ist doch unrealistisch.“

Dennoch steht heute in der Lesung gerade dieses Gebot: „Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst.“ (Lev 19,18) Man kann es besser übersetzen mit den Worten: „Du sollst deinem Nächsten Taten der Liebe erweisen: Er ist wie du.“ [1] Das heißt:

Der andere ist ein Mensch – wie du.

Er braucht Nahrung und Kleidung – wie du.

Er braucht Anerkennung und Liebe – wie du.

Er hat Fehler – genau wie du!

Und er ist von Gott geschaffen und geliebt – wie du!

Das heißt: er hat Würde – genau wie du!

Es geht nicht um schöne Gefühle, es geht um die Haltung zum anderen. Es geht auch nicht darum, die Selbstliebe zum Maßstab der Nächstenliebe zu machen. Man soll sich daran erinnern, dass der andere wesensgleich ist mit einem selbst. [2] Wenn ich sage: „Der ist ja nicht wie wir. Der ist anders.“, setze ich seine Würde herab. Das war schon immer er Anfang von allem Übel. Zum Beispiel: Frauen sind anders als Männer. Schwarze sind anders als Weiße. Juden sind anders als Deutsche: Bevor man Millionen von Menschen ermordet hatte, machte man sie zu „Untermenschen“ oder „Parasiten“. 

Und das funktioniert auch heute noch so. Beim Mobbing zum Beispiel: in der Schule oder am Arbeitsplatz. Ist jemand erst einmal zum Opfer degradiert, ist das die Erlaubnis für alle, erst recht drauf zu hauen. Hämische Kommentare bis zum Rufmord bei Facebook und Co. finden keine Grenzen. Das ist der Anfang vom Ende. Manche führt das in den Selbstmord.

Der Andere ist wie Du. Er hat Würde – wie du. Im Evangelium heißt es: „Gott lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten.“ Er liebt mich und er liebt den anderen. Sogar den bösen Nachbarn… Darin haben wir unseren gemeinsamen Nenner. Und das ist nicht der kleinste gemeinsame Nenner. Das ist die höchste Würde, die man sich nur denken kann. Wer das voraussetzt, kann die Andersartigkeit eines Menschen ertragen, - ja sogar wert schätzen. Sie bereichert dann das eigene Leben.

Der Andere ist wie Du. Deshalb sollst du ihm Taten der Liebe erweisen. Wer das tut, verändert seine Haltung zum anderen. Das äußere Tun verändert die innere Einstellung. So kann ich Abneigung und sogar Hass überwinden. Dem anderen entgegen kommen, ohne etwas von ihm zu erwarten. Und wenn es nur ein freundlicher Gruß ist.

Und wenn er mich nicht zurückgrüßt: Niemand zwingt mich, mich zu ärgern. Der Andere ist ja nicht verantwortlich dafür, wie ich mich fühle. Dafür sorgen nur meine eigenen Gedanken. Wie ich die Situation bewerte entscheidet darüber, wie es mir damit geht. Es kann tausend Gründe dafür geben, warum der Nachbar nicht grüßt. Aber ich erfinde einen Grund und grüble darüber nach. Innerlich steigere ich mich in etwas hinein. Da hilft manchmal nur: innerlich STOP sagen und nicht weiterdenken.

Meine innere Einstellung ändern kann ich zum Beispiel, wenn ich dem Anderen immer wieder entgegenkomme: Mit Taten der Liebe. Vielleicht hilft gerade das auch dem Stinkstiefel von Nachbarn, sich zu ändern. Zumindest aber wird die Spirale von Abneigung, Hass, Konflikten und Gewalt unterbrochen. Im kleinen Nachbarstreit, im Familienzwist oder gar in Konflikten zwischen ganzen Völkern. Wenn keiner nachgibt, geht´s immer weiter…

So kann man auch das Gebot der Feindesliebe verstehen. Darum geht es heute im Evangelium. Jesus gibt den Rat, dem Feind gegenüber eine versöhnliche Haltung einzunehmen. Das entschärft. Nimmt ihm vielleicht seine Feindseligkeit.

Möglich wird das, wenn ich meinen inneren Halt in Gott gefunden habe. Ich bin geliebt! Das kann mir niemand nehmen. Mit diesem inneren Halt kann ich meinen Mitmenschen in einer anderen Haltung gegenübertreten. Und diese Haltung beeinflusst mein Verhalten. Taten der Liebe werden möglich.

Liebe Gemeinde, daran übe ich auch noch. Vielleicht ist das eine Aufgabe, an der man sein Leben lang üben muss. Und wenn mir Taten der Liebe nicht möglich sind, kann ich zumindest versuchen, für den anderen zu beten. Das hört sich fromm an, aber es wirkt. Ich hatte mal mit einem Menschen zu tun, der mir das Leben schwer machte. Er hatte mich sogar tief verletzt. Anderen ging es ähnlich. Da sagte mir eine ältere Frau: „Ja, man kann für ihn wohl nur noch beten.“ Das fand ich im ersten Moment abwegig. Ich wollte mich mit ihm auseinandersetzen. Mein Recht bekommen. Ich wollte ihn ändern. Aber dann hab ich es einfach mal versucht: Ich hab für ihn gebetet. -- Es hat ihn und die Situation nicht verändert. Aber meine Haltung hat sich verändert. So konnte ich mich ihm gegenüber anders verhalten.

Vielleicht kann man dann das Sprichwort „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“ anders formulieren. Vielleicht sollte man sagen:
Wenn einem auch der böse Nachbar nicht gefällt, kann gerade der Fromme den Frieden leben.


(Anne-Marie Eising, Pastoralreferentin St. Otger, Stadtlohn)




[1] Stuttgarter Altes Testament; Kommentar zu Lev 19,18, Stuttgart 2004, S. 194,
[2] vgl. Fulbert Steffensky, Schöne Aussichten – Einlassungen auf biblische Texte, Radius-Verlag Stuttgart, 2006, S. 31ff