Statio zu
Allerheiligen 2014
Liebe Gemeinde,
was halten Sie von Sterbehilfe? Oder davon, dass Ärzte beim Selbstmord
assistieren? Darüber wird ja viel diskutiert. Einige Politiker wollen das Gesetz
ändern.
Vor einer Woche machte eine junge Frau aus den USA Schlagzeilen.
In der Zeitung las ich: Brittany Maynard wolle sich am 1. November – an Allerheiligen – das Leben nehmen. 29 Jahre ist sie erst. Leidet an
einem Hirntumor – unheilbar. Ärzte haben ihr Gift verschrieben. In Oregon in
den USA ist das erlaubt. Die Fläschchen mit dem Gift trägt Brittany bei sich.
Ihr Ehemann sagt: „Nicht leiden zu
müssen, sondern entscheiden zu können, wann es genug ist, ist eine große
Erleichterung.“ - Ihren Selbstmord
hatte sie angekündigt in einem YouTube-Video. Gedreht von einer Organisation,
die in den gesamten USA Sterbehilfegesetze durchsetzen will.
Wie mag es Brittany wohl gehen? Ob sie das Gift tatsächlich
nimmt? Gestern hab ich gedacht: Was ist, wenn für sie das Leben am 1. November doch
lebenswert ist? Unter welchem Druck mag sie nun stehen? Heute kam ein neues
Video: Sie verschiebt den Termin ihres Todes. Das Leben sei im Moment noch
schön.
Ein anderes Beispiel:
Im letzten Jahr starb Walter Jens. Er war Schriftsteller. Einer
der bedeutenden Denker in Deutschland. 90 Jahre ist er geworden. In jungen
Jahren kämpfte für die aktive Sterbehilfe. Für sich selbst hatte er klar, dass
er nicht mehr leben wolle, wenn er nur ein Schatten seiner selbst sei. 1994
sagte er: „Darf ich nach einem
selbst-bestimmten Leben nicht auch einen selbstbestimmten Tod haben, statt als ein dem
Gespött preisgegebenes Etwas zu sterben, das nur von fern her
an mich erinnert?“ 20 Jahre später wurde er dement. Seine Familie und ein
befreundeter Arzt hatten versprochen, ihm seinen Sterbewillen zu erfüllen. Aber es kam anders. Etwa 10 Jahre lebte er noch. Trotz Demenz. Wird pflegebedürftig. Doch niemand nimmt ihm das Leben. Der Grund: Sein Sohn berichtet über seinen dementen Vater: „Dann, auf einmal, lächelt mein Vater und sagt:
„Aber schön ist es doch.“ [1]
Warum wünschen sich Menschen Sterbehilfe oder Hilfe beim
Selbstmord? Untersuchungen aus den Niederlanden haben gezeigt: Es ist nicht in erster Linie die Angst vor unerträglichen
Leiden. Die häufigsten Motive waren: Furcht, die Würde zu verlieren; man will keinem zur Last
fallen; Einsamkeit und Depression.
Die Untersuchungen brachten noch etwas anderes zutage: Neben der Tötung auf Verlangen – da konnten die Patienten
ihren Willen ganz klar äußern – gab es jährlich etwa 1000 Fälle, die es vom
Gesetz her eigentlich gar nicht geben durfte: 1000 Fälle von aktiver
Sterbehilfe, die vom Arzt durchgeführt wurden – ohne ausdrückliches und
beständiges Verlangen des Patienten. Als Motiv für ihr Tun nannten Ärzte – natürlich anonym – nicht
an erster Stelle Schmerzen oder Leiden der Patienten. Wichtigere Motive waren: die zu erwartende niedrigere Lebensqualität; die Erfolglosigkeit weiterer Therapien
und vor allem: der Wunsch der Angehörigen…[2]
Auch wenn eine Gesellschaft es schaffen sollte, Missbrauch
auszuschließen: Ich persönlich halte eine Lockerung der Gesetze für gefährlich.
Ich frage mich: Würde die Palliativmedizin noch ausgebaut werden?
Würde weiter geforscht? Das ist ja teuer.
Für Krankenkassen wäre der ärztlich assistierte Selbstmord billiger, als eine
lange Schmerztherapie.
1998 nannte man das mit dem Unwort des Jahres: „sozialverträgliches Frühableben“. Damals ging es um die Rente. Als
Rentner verursache ein Mensch mehr Kosten, als er Nutzen bringe – zumindest
volkswirtschaftlich gesehen. - Das ist menschenverachtend.
Weiter frage ich mich: Wenn die Tötung auf Verlangen legal wird, was
ist mit denjenigen, die sich dagegen entscheiden? Die den Zeitpunkt des Todes
in andere Hände legen? Geraten die nicht unter einen ungeheuren Rechtfertigungsdruck?
Schon heute müssen sich ja Eltern rechtfertigen, wenn sie ein behindertes Kind bekommen.
Oft heißt es dann: „Das muss doch heute
nicht mehr sein.“ Wäre die Selbstbestimmung über den Zeitpunkt des eigenen
Todes eine neue Freiheit, oder würd es einmal zum Zwang, es tun zu müssen?
Darf eine Gesellschaft das Leid aus der Welt schaffen, indem
sie die Leidenden aus der Welt schafft? Jemand hat mal gesagt: „Den Zivilisationsgrad
einer Gesellschaft kann man daran messen, wie sie mit den Schwächsten umgeht.“
Beim Thema ärztlich assistierter Selbstmord oder Tötung auf
Verlangen geht es auch um die Werte, die einer Gesellschaft wichtig sind. Lebenswert scheint heute zu sein: Erfolg haben, schön sein,
aktiv sein. Ihr Heil sehen viele
Menschen darin, selbstbestimmt zu
sein, unabhängig und vor allem: gesund. Ja, Hauptsache gesund!
Wenn wir heute Allerheiligen feiern gedenken wir aller Heiligen.
Die meisten, die die Kirche heiliggesprochen hat, waren allerdings alles andere
als gesund. Viele hatten zeit ihres Lebens mit körperlichen oder seelischen
Leiden zu kämpfen. Einige Beispiele: Hildegard
von Bingen: sie hatte wohl starkes Rheuma. War oft ans Bett gefesselt. Ignatius
von Loyola humpelte. Wegen einer Kriegsverletzung. Franz von
Assisi wurde blind. Und Bernadette
aus Lourdes starb an Knochentuberkulose. Die Heiligen waren alles andere als gesund. Aber sie waren heil.
Was bedeutet eigentlich heil sein, wenn es nicht gesund sein
heißt? Heil sein heißt für mich: Bei Gott sein, vollkommene Nähe zu ihm
erfahren. So, wie es im Paradies war: Nachdem Gott die Welt erschaffen hatte,
sah er alles an und es war sehr gut. Die Menschen lebten noch im Einklang mit
sich selbst, mit ihren Mitmenschen und mit Gott. Sie empfanden inneren Frieden. Die Heiligen hatten davon eine Ahnung. Sie haben alles von
Gott erwartet, nicht von ihrer Gesundheit. Er war der Grund und das Ziel ihres
Lebens. So, wie es im Evangelium heute heißt: „Selig, die arm sind vor Gott, denn ihnen gehört das Himmelreich.“ Die
Einheit mit Gott machte die Heiligen heil. Man kann sagen: Gesundheit ist spätestens mit dem Tod zu
Ende. Das Heil aber kommt mit dem Tod zur Vollendung. Das ist keine Jenseitsvertröstung. Es geht um´s Heil-sein im
Hier und Jetzt. Wer mit Gott lebt wird heil. Im Leben nach dem Tod und vor
allem schon im Leben vor dem Tod.
Wenn wir heute Allerheiligen feiern, gedenken wir des Heils
im doppelten Sinn: Wir gedenken aller Heiligen und wir feiern unser aller Heil.
Eben Aller-Heil-igen. Im Grunde feiern wir jetzt im Herbst ein Osterfest. Denn
wir glauben, dass die Heiligen schon von Gott vollendet sind. Und damit meine
ich nicht nur die von der Kirche Heiliggesprochenen. Damit meine ich alle
Christen, die vor uns gelebt und geglaubt haben.
Auch kranke Menschen können heil sein. Viele Pilger
berichten, dass sie aus Lourdes anders wieder nach Hause gekommen sind – trotz
Krankheit. Ich glaube, sie haben inneren Frieden gefunden – gerade in der
Krankheit.
Unsere Aufgabe als Gesellschaft ist es, dafür zu sorgen,
dass kranke und sterbende Menschen keine Angst haben müssen, allein zu sein.
Dass sie liebevolle Pflege erhalten – ohne Bürokratie und ohne Geldsorgen.
Unsere Aufgabe ist es, Menschen mit Krankheit und Behinderung das Gefühl zu geben,
dass sie wertvoll sind und keine Last. Vor allem gilt es, ihre Würde zu wahren.
Dazu gehört auch, keine Schmerzen zu haben. Alle schwer Kranken müssen Zugang
zur Palliativmedizin erhalten. Da gibt es noch viel zu tun.
Und wenn doch jemand um Hilfe zum Selbstmord bittet?
Christen dürfen niemanden verurteilen. Ich habe Hochachtung
vor Nikolaus Schneider – dem Ratsvorsitzenden der EKD. Entgegen seiner
Überzeugung als Christ würde er seine Frau zum Sterben begleiten in die Schweiz
– aus Liebe.
Für Christen ist das Leben unantastbar. Ein Geschenk Gottes,
das es zu schützen gilt. Nicht für aktive Sterbehilfe dürfen Christen eintreten,
sondern für aktive Lebenshilfe. Dem fühlt sich die Hospizbewegung verpflichtet. Sie handelt
nach den Worten ihrer Gründerin Cicely Saunders. Diese sagte Sterbenden: „Sie sind bis zum
letzten Augenblick ihres Lebens wichtig. Und wir werden alles tun, damit Sie
nicht nur in Frieden sterben sondern auch bis zuletzt leben
können.“
Bis zuletzt leben. Und sterben im Vertrauen darauf, dass wir
nicht tiefer fallen können als in die Hände Gottes.
(Anne-Marie Eising,
Pastoralreferentin St. Otger, Stadtlohn)