Sonntag, 3. April 2016

Einseitige Vergebung: Zumutung zum Leben


Statio vom 2./3. April 2016 - C2O2016 - Joh 20, 19-31
Liebe Mitchristen,

letztens erzählte mir eine junge Frau, wie sich ihr Leben verändert hat. Man könnte es bezeichnen als Auferstehung hier und jetzt. Es begann mit einer schweren Krise. Sie fühlte sich wie gelähmt – eingesperrt in sich selbst. Versunken in einem dunklen Loch. Für die junge Frau war das Schlimmste: In ihrer Umgebung hatte keiner Verständnis für sie. Freunde sagten: „Gib dir einen Ruck, reiß dich zusammen.“ Oder: „Du musst mal wieder unter Leute. Komm mit zur nächsten Party.“ Dabei kostete gerade das ihre ganze Kraft: In Gesellschaft so zu tun, als ob nichts ist. Nach außen hin zu funktionieren. Sie war froh, endlich eine Psychotherapie machen zu können. Ein halbes Jahr lang hat sie darauf gewartet. Von ihrer Therapeutin fühlt sie sich verstanden und akzeptiert, so wie sie ist. Da muss sie keine Fassade aufrechterhalten. Keine gute Miene machen zum bösen Spiel. Endlich kann sie ihre Gefühle sortieren. Und sie lernt: Jedes Gefühl ist o.k. Auch die negativen. Jetzt kann sie sich erinnern an Verletzungen von früher. Wunden, an die sie nicht mehr gedacht hat. Die sich aber tief in ihrer Seele eingegraben haben. Ihre Familie kann sie nicht verstehen: „Was hast du eigentlich? Dir geht es doch gut. Du kreist ja nur noch um dich selbst.“ Die Familie sieht nicht die positive Entwicklung: In der Therapie schaut die junge Frau ihre Wunden an und versteht sich selbst immer besser. Das tut zwar weh, aber so lernt sie nach und nach, mit ihren Wunden zu leben – sie anzunehmen. Denn die sind und bleiben ja ein Teil von ihr. Haben ihre Identität geprägt.
Die junge Frau lernt im Laufe der Therapie, sich mit ihrer eigenen Lebensgeschichte zu versöhnen. Den Eltern zu vergeben, die – wie wohl alle Eltern – manches falsch gemacht haben. Sie vergibt der Mutter die Ohrfeige, die dieser vor vielen Jahren herausgerutscht ist. Ungerecht, wie die Tochter damals fand. Lange Zeit hat sie der Seele mehr wehgetan, als der Wange. Sie vergibt auch dem Vater, der sich nie wirklich für sie interessiert hat. Diese Vergebung geschieht einseitig von der Tochter aus – ohne dass es Gespräche mit den Eltern gegeben hat. Doch so kann die junge Frau Frieden schließen mit den Wunden ihrer Vergangenheit. Und das ändert ihr Leben. Sie löst sich von sogenannten Freunden, bei denen sie nie sie selbst sein konnte. – Nicht alle verstehen das. Aber sie gewinnt Vertrauen in eine neue Zukunft. Es fühlt sich an wie ein ganz neues Leben.

Manchmal kann eine Krise dem Leben eine neue Richtung geben. Zunächst fühlt man sich wie tot. Vor allem dann, wenn man negative Seiten im Leben verdrängt. Wer dagegen seine Wunden ansieht, kann eine ganz neue Lebensqualität gewinnen. Vorausgesetzt, man versöhnt sich mit seiner Lebensgeschichte. Helfen kann dabei ein guter Begleiter. Das muss kein Therapeut sein. Einfach ein Mensch, der einen versteht und annimmt, wie man ist. Der einem hilft, der Mensch zu werden, der man eigentlich ist, sich weiterzuentwickeln und auch: innerlich zu vergeben. Das gibt inneren Frieden. Neuaufbruch wird möglich. Man könnte auch sagen: Auferstehung im Hier und Jetzt.

An so ein neues Leben können die Jünger Jesu noch nicht glauben. Das Evangelium heute berichtet: Sie haben sich eingesperrt – aus Angst. Fürchten, auch getötet zu werden. Außerdem fühlen sie sich verraten und verkauft. Mit dem Tod Jesu ist für sie alles aus und vorbei. Alles, worauf sie gehofft hatten, ist null und nichtig. Der, der am Kreuz endet, kann niemals mit Gott im Bunde stehen. Doch die Begegnung mit dem Auferstandenen verändert alles. Er durchbricht die Isolation. Kommt durch die verschlossene Tür. Doch er fragt nicht: „Was ist los mit euch? Warum habt ihr Angst? Reißt euch mal zusammen!“ Er versteht sie und akzeptiert sie so wie sie sind. Hat Verständnis dafür, dass sie ihn nicht sofort erkennen und zeigt ihnen seine Wunden. Die sind der Beweis für seine Identität. Der Auferstandene trägt die Identität des Menschen Jesus von Nazareth in sich. Was vor seinem Tod galt, das gilt jetzt erst recht. Die Jünger schauen seine Wunden an. Da wandelt sich ihre Furcht in Freude, ihr Unglaube in Glaube. Mitten in der Krise spricht Jesus Christus den Jüngern zu: „Friede sei mit euch!“ Das sind die gleichen Worte wie bei seiner Abschiedsrede. Doch der Friede Christi ist kein Ruhekissen. Er spricht ihnen das Heil Gottes zu. Und das sollen sie weitertragen: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch!“ Dabei haucht er ihnen im wahrsten Sinne des Wortes neues Leben ein. Ähnlich wie Gott bei der Erschaffung des Menschen: „Gott blies in seine Nase den Lebensatem.“ Das erinnert an Erste Hilfe – Wiederbelebung. Nach Ostern kommt Jesus Christus und haucht seine Jünger an: „Empfangt den Heiligen Geist.“ Den Atem Gottes, die Kraft Gottes. Beistand für eine neue Lebensqualität. Und Jesus beauftragt sie, diese weiterzutragen. Anderen zu einem neuen, zu einem heilen Leben zu verhelfen. Und dies geschieht einzig und allein durch Vergebung. Man könnte sagen: Der Therapeut Jesus Christus verschreibt als Therapie für das wahre Leben: Bereitschaft zur Vergebung.

Die ist immer dann möglich, wenn der Einzelne das will. Zur Versöhnung gehören zwei Parteien. Die müssen miteinander ins Reine kommen. Sich an einen Tisch setzten. Sich aussprechen. Das ist aber nicht immer möglich. Vielleicht weil der andere nicht will, nicht kann oder vielleicht schon gestorben ist. Versöhnung geht nur zu zweit. Vergeben kann man auch allein – einseitig. Walter Kohl hat das beschrieben in seinem Buch „Leben oder gelebt werden“. Der Sohn von Helmut Kohl hat keinen Kontakt mehr zu seinem Vater. Versöhnung miteinander ist nicht möglich. Aber einseitige Vergebung. Erst nachdem Walter Kohl das möglich war, konnte er ein unabhängiges Leben führen. War nicht mehr nur der Sohn vom Kanzler. Möglich war ihm das erst, nachdem er seine Kindheit betrauert hat. Nachdem er seine Wunden angesehen hat. So ähnlich, wie die junge Frau, von der ich eben erzählt habe.

Wunden ansehen, damit neues Leben möglich wird. Das gilt nicht nur für die persönlichen Lebenswunden. Sondern auch für die Wunden der Welt. Deshalb dürfen Christen nicht wegsehen. Müssen Leid und Not erkennen und benennen. Wunden sehen aus der Vergangenheit und der Gegenwart. Zum Beispiel die Wunden des Nationalsozialismus, der Kreuzzüge, Völkermorde, Gewalt gegen Frauen, Menschenhandel, Grenzschließungen, brennende Asylbewerberheime, Selbstmordattentate, Arbeitslosigkeit und, und, und.

Nur wer Wunden ansieht, kann Not wenden. Nur wer Wunden ansieht, kann irgendwann vergeben – und damit Leid lindern. Vergeben kann nur, wer loslässt. Wer anderen etwas nachträgt, bleibt in sich selbst gefangen. Man trägt nur selber schwer an dem, was man nachträgt. Der Andere merkt es vielleicht nicht einmal. Einseitige Vergebung durchbricht die Spirale der Gewalt und macht innerlich frei. Das stiftet Frieden. Den Frieden, den Jesus meint und der von ihm ausgeht. Christen sind gesandt, Vergebung in die Welt zu tragen. Jeder da, wo er lebt und wirkt. Vielleicht sagen Sie jetzt: Das ist doch eine Zumutung! Ja, Christus mutet uns das zu! Und der gibt uns Mut – seinen Heiligen Geist! Die Kraft Gottes. Sie macht Vergebung möglich. – Neuanfang. Man könnte auch sagen: Auferstehung im Hier und Jetzt.  

(Anne-Marie Eising, Pastoralreferentin, St. Otger, Stadtlohn)
Hier noch ein interessanter Film: 
Vergeben macht gesund und vergeben macht stark. Doch: "Wie geht vergeben?"

Samstag, 23. Januar 2016

GottesDienst ist: Neuanfang zur Freiheit

Statio vom 23./24.1.2016
1. Lesung: Neh 8.2-4a.5-6.8-10; 2. Lesung: 1 Kor 12, 12-14.27; Evangelium: 1,1-4; 4,14-21
 
Liebe Gemeinde,
in einer Kirche auf den Philippinen war was los. Ich habs gesehen im Internet: Der Pfarrer fährt auf einem Hoverboard durch die Kirche (das ist so eine Art Skateboard, das von alleine fährt). Dabei singt er der Gemeinde ein Weihnachtslied. Stellen Sie sich das hier mal vor mit Pfarrer Jürgens… Singen kann er ja. Aber eine Showeinlage im Gottesdienst? Manche finden das bestimmt klasse. Endlich mal was los! Der Bischof auf den Philippinen fand das gar nicht gut. Hat den Pfarrer erstmal suspendiert. Im Internet wurde protestiert: Typisch Kirche. Total verbohrt. Kein Wunder, dass da keiner mehr hingeht – zum Gottesdienst.
 

Auch andere können mit Gottesdienst nichts anfangen. Sie sagen: „Das ist doch alles fromme Soße! Was hat uns dieser Jesus schon gebracht? Die Welt ist heute nichts besser als vor 2000 Jahren!“ – Ehrlich gesagt: Das denk ich manchmal auch. Im Evangelium sagt Jesus heute: „ich bin gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; … damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.“ Und am Ende setzt er noch eins drauf: „Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt“. Super! Wenn ich die Nachrichten anmache, sehe ich was ganz anderes: Krieg und Terror. Und der kommt immer näher. Anschläge in Paris, Istanbul und anderen Orten. Menschen flüchten zu uns. Die Stimmung schlägt um. Nicht erst seit Silvester in Köln. Es wird öffentlich gehetzt – auf der Straße und im Internet. Und in dieser Situation erscheint eine Neuauflage von Hitlers „Mein Kampf“. Zwar mit Kommentaren, damit man draus lernt. Aber ich fürchte, das ist Nahrung für AfD, Pegida und Konsorten. Mir macht das Angst! Ich sehe nichts von einer besseren Welt, wie Jesus sie verspricht.
 
Und in der Lesung heißt es heute: „Macht euch keine Sorgen; denn die Freude am Herrn ist eure Stärke.“ Ist das nicht fromme Soße für die bittere Wirklichkeit? Gottesdienst als Seelenvertröstung? Was können alte Bibeltexte uns heute noch sagen? Wozu das ganze Spektakel mit den Riten und Gebräuchen, die kaum einer versteht? Meine Antwort: Mit Gottesdienst können nur Menschen etwas anfangen, die auch mit Gott etwas anfangen können. Denn Gottesdienst ist Gottes Dienst an uns Menschen. Der Dienst, den Gott uns erweist, ist: Neuanfang zur Freiheit.
 

Die Menschen in der ersten Lesung haben das erkannt. Sie stehen vor so einem Neuanfang. Das Volk Israel ist zurückgekehrt ins Land Kanaan. Ins verheißene Land. – Viele Jahre waren sie im Exil in Babylon. Endlich sind sie frei. Allerdings: zuhause steht kein Stein mehr auf dem anderen. Alles Chaos. Sie brauchen wieder ein Fundament, das trägt. Nicht nur für die Häuser. Auch für ihr ganzes Leben. So eine Art Grundgesetz, das ein Leben in Freiheit garantiert. Einen wirklichen Neuanfang.
 
Vielleicht erinnert sich da manch einer an die Zeit in Deutschland – nach dem zweiten Weltkrieg: Mit unserer Verfassung gab es auch einen Neuanfang. Aussicht auf eine bessere Welt. Regierte vorher die Menschenverachtung von Hitlers „Mein Kampf“, gilt nun der Artikel 1 des Grundgesetztes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ - Die Würde jedes Menschen!! 1949 wurde er möglich: der Neuanfang zur Freiheit.
 
Das Grundgesetz des Volkes Israel ist das Gesetz Gottes – die zehn Gebote. Am Berg Sinai hat Gott damit seinen Bund mit ihnen geschlossen. Das war nachdem er sie zum ersten Mal befreit hat. Der Bund heißt: „Wenn ihr eure Freiheit bewahren wollt, dann werdet ihr meine Gebote halten.“
 
Jetzt sind sie wieder in der gleichen Lage. Und erkennen: Früher hatten sie sich nicht an das Gesetz Gottes gehalten. Sie werden unfrei. Gott aber bleibt treu. Hat sie erneut befreit. Und nun stehen sie da und hören das Gesetz Gottes. Was ihre Vorfahren mit Gott erlebt haben, wird vorgelesen. So, wie wir das heute noch tun – jetzt im Gottesdienst: in der Lesung und im Evangelium.
 
Die ganze Situation der ersten Lesung erinnert an unseren Wortgottesdienst. Unsere Riten und Gebräuche stammen ja aus dem jüdischen Synagogengottesdienst. Nach Jesu Auferstehung haben die Jünger den weiterhin gefeiert. Und dabei das Brot gebrochen, wie Jesus es ihnen aufgetragen hat. Unsere Feier heute hat also eine lange Tradition. Sie zeigt uns, wer wir sind und zu wem wir gehören: Zu Gott.
 
Im Gottesdienst danken wir ihm für den Dienst, den er schon längst an uns getan hat. Wir stellen uns unter sein Gesetz und bekennen uns zur Freiheit, die er uns schenkt. Mit ihm können wir immer wieder neu anfangen. Denn er selbst hat in Jesus einen Neuanfang mit uns gemacht. Wenn Jesus im Evangelium heute sagt: „Ich bin gesandt, damit ich ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.“, dann verspricht er solch einen Neuanfang zur Freiheit. In einem Gnadenjahr oder Sabbatjahr sollte es alle 50 Jahre einen Schuldenschnitt geben. Ganz wörtlich. Wer durch Schulden in Abhängigkeit geriet, sollte wieder neu anfangen können. Jesus meint das im übertragenen Sinn. Denn auch moralische Schuld macht unfrei. Aber Gott verzeiht die Schuld. Befreit von allem, was einen gefangen hält. Jesus verkündet diesen Neuanfang zur Freiheit. Und im Evangelium geht er noch weiter. Er sagt: „Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.“ Das heißt: Wer sich vom Wort Gottes treffen lässt, für den wird dieser Neuanfang zur Freiheit Realität. Er wird das Wort Gottes nicht nur hören, sondern auch tun. Wer zum Beispiel die zehn Gebote hält, wird nicht mehr von Macht, Geld und Habenwollen regiert. Das macht innerlich frei und gewährt Freiheit und Würde der anderen.
 

Ich wage mal eine Utopie:
Wenn alle Menschen so handeln würden, sähe die Welt anders aus.
·       Die Reichen würden nicht immer reicher – auf Kosten der Armen.
·       Niemand müsste aus Angst um sein Leben flüchten.
·       Keine Frau müsste befürchten, in ihrer Würde verletzt zu werden.
·       Niemand würde unterdrückt, missbraucht und gedemütigt…  
Alles Utopie? Vielleicht. Aber Utopia ist ja eine Welt, die es noch nicht gibt, die es aber geben müsste. Doch wenn viele kleine Leute viele kleine Schritte tun, dann kann das das Gesicht der Welt verändern.  
[Während der Schützenmessen:Und das hat sich das Schützenwesen ja auch auf die Fahne geschrieben. „Glaube – Sitte – Heimat“ sind keine toten Buchstaben. Wer diese Tradition lebt, gestaltet das Allgemeinwohl mit. Zu Recht gilt das nun als Weltkulturerbe: Das Gesicht der Welt verändern…]
[Und] damit kann man jeden Tag einen neuen Anfang machen.
 
Der Gottesdienst hilft mir dabei. Ich lasse mir zusagen, was Gott für mich getan hat. Das stärkt mich, wenn ich versuche, mich einzusetzen für eine bessere Welt. Im Gottesdienst brauche ich das Gefühl, dass ich Gott begegnen kann. Dafür brauche ich keine Supershow und auch kein Unterhaltungsprogramm. Ich brauche einfach Menschen, die mit mir und für mich beten. Egal, ob am Altar oder in der Bank. Menschen, mit denen ich im Glauben verbunden bin. Und die nicht sich selbst in Szene setzen, sondern Gott. Denn wir sagen ja Danke für: Gottes Dienst.